Welche Möglichkeiten ein bundesweiter Finanzierungstopf für die flächendeckende Behandlung von Patientinnen und Patienten mit seltenen Erkrankungen bietet.
Wien, 4. Mai 2023 – Hoch spezialisierte Therapien bei seltenen Erkrankungen werden in Österreich uneinheitlich finanziert. In den letzten Jahren wurde deswegen in ersten Ansätzen ein bundesweiter Finanzierungstopf als Lösungsmodell eingerichtet. Inwieweit eine breitere Aufstellung eines solchen Topfes dazu beitragen kann, eine bessere Versorgung von Patientinnen und Patienten mit seltenen Erkrankungen über alle Bundesländer hinweg zu gewährleisten, wird derzeit unter anderem in den laufenden Finanzausgleichsverhandlungen thematisiert – und stand im Fokus des 13. Rare Diseases Dialogs der PHARMIG ACADEMY.
Patientinnen und Patienten mit seltenen Erkrankungen sind nicht gleichmäßig über das gesamte Bundesgebiet verteilt. So kann es passieren, dass der Bedarf einer hoch spezialisierten und somit oft auch kostenintensiven Therapie in einer Region höher ist als in anderen. In der Folge wird die finanzielle Leistungsfähigkeit, und damit unter Umständen auch die Versorgungsmöglichkeit des entsprechenden regional verantwortlichen Trägers übermäßig in Anspruch genommen. Je nachdem, wie es um die finanziellen Möglichkeiten und Strukturen in den jeweiligen Bundesländern bestellt ist, sind Betroffene somit Herausforderungen bei der Finanzierbarkeit ihrer Therapien ausgesetzt.
„Auch wenn wir in Österreich seit 2020 eine einheitlichere Gesundheitskasse haben, ist die medizinische Versorgung bei seltenen Erkrankungen unterschiedlich. Das fällt insbesondere bei kostenintensiven Einmaltherapien ins Gewicht, für die es oft ein beschränktes Zeitfenster der therapeutischen Möglichkeit gibt, weil die Therapie beginnen sollte, bevor durch die Erkrankung irreversible Schäden entstanden sind“, erläutert ao. Univ.-Prof. Dr. Daniela Karall, Stellvertretende Direktorin der Innsbrucker Kinderklinik und Obfrau des Vereines Forum Seltene Krankheiten in ihrer Keynote beim 13. Rare Diseases Dialog.
Besonders hoch ist der Handlungsbedarf im Bereich der Pädiatrie. „Krankheiten kümmern sich nicht um Kostenträger. Die aktuelle Situation kann im Extremfall so weit führen, dass eines von zwei Geschwistern, die an derselben Krankheit leiden, Medikamente bekommt und das andere nicht. Wir dürfen keine Patientin und keinen Patienten unbehandelt lassen, egal welchen Alters. Leider fehlen bundesweit einheitliche Lösungen und vor allem ein Solidaritätsinstrument für diese Erkrankungsbilder“, so Karall. Der Finanzierungstopf biete Lösungspotenzial für diese Fälle.
Ein solches Instrument könne laut ao. Univ.-Prof. Dr. Herwig Ostermann, Geschäftsführer der Gesundheit Österreich GmbH, lediglich ein Add-on zum bestehenden System sein. „Es geht um Spitzenabfederung. Von der Schaffung eines weiteren komplexen Systems innerhalb des Gesundheitssystems rate ich ab“, so Ostermann. „Die föderale Struktur Österreichs räumt den Bundesländern ein bestimmtes Maß an Autonomie im Gesundheitsbereich ein und hat durchaus bis zu einem gewissen Ausmaß ihren Sinn. Ein bundesweiter Topf kann die Länder und deren Bevölkerung bei der Gesundheitsversorgung zusätzlich unterstützen. Aber man muss die Nutzung dieser speziellen Ressource an bestimmte Kriterien binden, damit sie sinnvoll eingesetzt werden kann“, führt Ostermann aus.
„Wir benötigen vor allem Output-Messungen im Rahmen von Registern, um nachvollziehen zu können, dass das Geld im Sinne der Patientinnen und Patienten eingesetzt wird. Diese Real-World-Daten können den Einsatz von Medikamenten für seltene Erkrankungen unterstützen“, erklärt Mag. Gunda Gittler, MBA, aHPh, Apothekenleiterin und zuständig für den Arzneimitteleinkauf des Einkaufsverbundes der Barmherzigen Brüder. Mit Blick auf den diskutierten Finanzierungstopf sagt Gittler: „Ein gemeinsamer Topf ist ein guter Lösungsansatz, aber wir benötigen keine weitere Zentralisierung des Einkaufs. Der sollte weiterhin regional bleiben und wird ohnedies bereits über die Zusammenarbeit der Krankenhausapotheken und der Spitalsträger in Österreich gelebt. Eine zentrale Beschaffung hat sich auch im Kampf gegen die Pandemie als wenig zielführend erwiesen.“
„Wir verfügen über einige kostenintensive Therapien für seltene Erkrankungen, für die eine Einigung über die gemeinsame Finanzierung durch Bund, Länder und Sozialversicherungsträger erzielt werden konnte, die dem Vernehmen nach auch gut funktioniert. Dieses Modell sollte als Musterprozess dienen, um den möglichst raschen Zugang zu kostenintensiven Gen- oder Zelltherapien für seltenen Erkrankungen, von welchen einige kurz vor der Zulassung stehen, zu ermöglichen, und zwar unabhängig davon, in welchem Land oder Bundesland die betroffenen Patientinnen und Patienten – mehrheitlich Kinder – zu Hause sind. Die therapeutischen Interventionen sind meist zeitkritisch, wir brauchen also einen Prozess, der diesem Umstand gerecht wird, und es braucht Nachhaltigkeit bei der Dotierung des Finanzierungstopfes“, erklärt Mag. Dominique Sturz von Pro Rare Austria, der Allianz für seltene Erkrankungen.
„Unser System braucht doch einige Ergänzungen“, meint Hon. Prof. Dr. Bernhard Rupp, MBA Leiter der Abteilung Gesundheitspolitik in der Kammer für Arbeiter und Angestellte für Niederösterreich in Ergänzung zu Prof. Ostermann. Die Versorgungsqualität für Patientinnen und Patienten dürfe nach Rupp nicht von deren Wohnort-Postleitzahl abhängen. „Wir brauchen österreichweit einheitliche rechtlich abgesicherte Entscheidungsstrukturen für den Spitalsbereich und die Zugänglichkeit innovativer Therapien für wirklich alle Patientinnen und Patienten, die dafür qualifiziert sind. Besonders wenn die Therapien in wenigen Zentren stattfinden, dürfen ‚fremde‘ Patientinnen und Patienten aus anderen Bundesländern nicht benachteiligt werden“, erklärt Rupp.
Weiters plädiert Rupp für einen klaren Rechtsweg für Betroffene, damit sie für die Durchsetzung neuer Therapien nicht erst den Zivilrechtsweg beschreiten müssen. „Dazu sind rasche Instrumente zur Entscheidungsfindung und Rechtsdurchsetzung erforderlich. Gleichzeitig dürfen wir unseren Spezialistinnen und Spezialisten aus der Medizin nicht zu verstehen geben, dass sie Gegenwind bekommen, wenn sie solche spezifischen Therapien verordnen“, argumentiert Rupp, und fügt hinzu: „Ein Finanzierungstopf mit klarer Zweckwidmung und Zugriffsregelungen, die auf medizinisch-wissenschaftlichen Kriterien basieren, kann helfen.“
„Die finanzielle Situation der Republik ist derzeit angespannt, durch die Auswirkungen der Pandemie, der Teuerung und des Krieges in Europa. Unsere Gesundheitsversorgung sollte jedoch auch und gerade in Krisenzeiten oberste Priorität genießen. Der Mechanismus, dass aus diesem Topf nicht nur genommen, sondern auch nachhaltig eingezahlt wird, ist Gegenstand der Finanzausgleichsverhandlungen“, äußert Dr. Ronald Pichler, Head of Public Affairs & Market Access der PHARMIG, Verständnis. Gleichzeitig müsse Österreich aber seine Position als Innovationsstandort verbessern und dazu zähle auch die Offenheit für medizinischen Fortschritt.
Denn die Wissenschaftsskepsis in Österreich ist im Vergleich zu anderen Staaten in Europa besorgniserregend, wie Studien von Eurobarometer und Spectra von 2022 und 2021 belegen. „Den Einsatz moderner Therapien über Sondertopflösungen möglich zu machen, würde einen klaren Nutzen stiften, und zwar nicht nur für Patientinnen und Patienten, sondern auch für das Gesundheitssystem, das dadurch entlastet wird – und damit auch jene Einrichtungen in den Regionen, die bei seltenen Erkrankungen für Behandlungen aufgesucht werden. Neue Therapien können ihre vielseitige Wirkung für die Betroffenen nur dann entfalten, wenn diese sie auch rasch und einheitlich erhalten“, so Pichler.
Rückfragehinweis:
PHARMIG – Verband der pharmazeutischen Industrie Österreichs
Head of Communication & PR
Peter Richter, BA MA MBA
+43 664 8860 5264
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