Expertisezentren sind Voraussetzung für frühe und adäquate Behandlung von Patienten. Der Anerkennungsprozess solcher Zentren verzögert sich jedoch aufgrund von Ressourcenmangel.
Wien, 28. Februar 2017 – In Österreich wurde bislang ein Expertisezentrum für seltene Erkrankungen designiert, die Ernennung eines Weiteren erfolgt in Kürze. Mehr als 400.000 Personen sind hierzulande von einer seltenen Erkrankung (SE) betroffen. Insbesondere Patientinnen und Patienten, Selbsthilfegruppen und, was die Entwicklung innovativer Therapien betrifft, auch die pharmazeutische Industrie fordern, dass rasch eine größere Anzahl an Expertisezentren in Österreich designiert und auf EU-Ebene in Europäische Referenznetzwerke (sog. ERN) integriert wird. Davon erhoffen sie sich eine stärkere Vernetzung von Ärzten, Behandlungszentren, Forschungseinrichtungen und Behörden. Die Anbindung an europäische Expertisezentren mittels ERN soll den länderübergreifenden Austausch, die Vernetzung und die Bündelung von Expertise fördern, was insbesondere bei Krankheiten, die nur ein paar Personen betreffen, hochrelevant ist.
„Je mehr Information, je stärker die Vernetzung, umso besser die Versorgung“, bringt es Pro Rare Obmann Dr. Rainer Riedl auf den Punkt. Er kämpft seit Jahren für die Anliegen der Patienten mit SE. Was fast alle Betroffene trotz großer Unterschiede zwischen den vielen seltenen Erkrankungen vereint, ist der lange Weg zur Diagnose: „Durchschnittlich vier bis sieben Jahre dauert es, bis SE-Patienten richtig diagnostiziert werden. Das ist ein immens langer Leidensweg, der sich gewaltig auf die Lebensqualität auswirkt. Immerhin sprechen wir von mehr als 400.000 Personen in Österreich, die von einer seltenen Erkrankung betroffen sind. Damit sie in Zukunft besser versorgt sind, braucht es die verstärkte Nutzung von Expertise und Vernetzung“, so Riedl.
Mag. Dominique Sturz ist Mutter einer Tochter mit Usher Syndrom - einer seltenen, erblich bedingten Erkrankung, die kombinierte Hörsehbeeinträchtigung unterschiedlichsten Ausmaßes zur Folge hat. Weiters ist sie Initiatorin der Usher Initiative Österreich und stv. Vorsitzende des Forums für Usher Syndrom, Hörsehbeeinträchtigung und Taubblindheit. Über ihren jahrelangen Einsatz für eine adäquate medizinische Versorgung ihrer Tochter sagt sie: „Mangels entsprechender Kompetenzen in Österreich nahmen wir als Familie nach der Diagnose Kontakt zu internationalen Patientenvertretungen und Fachkreisen in Europa und den USA auf, eigneten uns die nötigen Fachkenntnisse an und bemühten uns um die Vernetzung und Kooperation mit Medizin und Forschung auf österreichischer und internationaler Ebene.“ Dank ihres Engagements gibt es mittlerweile eine verstärkte interdisziplinäre Zusammenarbeit. Letztlich aber sollte das nicht Ergebnis der Arbeit einzelner Patienten oder ihrer Angehörigen sein, sondern es liegt vielmehr im Verantwortungsbereich der Politik, die Versorgungsstruktur derartig weitreichend zu verbessern.
Der NAP.se, der Nationale Aktionsplan für seltene Erkrankungen, sieht als zentrale Maßnahme ein Bündeln, Vernetzen und Sichtbarmachen der in Österreich bestehenden Expertise zu seltenen Erkrankungen vor. Dies soll durch die Designation (Ernennung) von spezialisierten Einrichtungen für definierte Gruppen von seltenen Erkrankungen, sowie deren Vernetzung mit Zentren in anderen europäischen Ländern geschehen. Die Nationale Koordinationsstelle für seltene Erkrankungen (NKSE) ist, in enger Kooperation mit Orphanet Austria, im Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit und Frauen mit dem Designationsprozess entsprechender Einrichtungen betraut. Die Entscheidungen trifft letztlich die Bundeszielsteuerungskommission, bestehend aus Vertretern von Bund, Ländern und Sozialversicherung, um durch die untereinander abgestimmte Beschlussfassung qualitätsvolle und nachhaltige Strukturen sicherzustellen.
Dr. Ursula Unterberger, der als Mitarbeiterin der NKSE bei der Designation eine maßgebliche Rolle zukommt, sagt dazu: „Es gibt ein großes Interesse vieler heimischen Einrichtungen, etwa Universitäten oder anderen Behandlungszentren, als Expertisezentrum für seltene Erkrankungen designiert zu werden, um als Vollmitglied in einem ERN mitwirken zu können.“ Dass der Prozess zur Ernennung von Expertisezentren vielen Akteuren nicht schnell genug geht, kann Unterberger gut nachvollziehen, ebenso, dass diese sich eine Perspektive wünschen. Genau aus diesem Grund fließe derzeit auch der Hauptteil der Arbeit der NKSE in die Designation weiterer geeigneter Zentren.
Auch Dr. Wolfgang Schnitzel, Vorsitzender im Arbeitskreis Rare Diseases der Pharmig, setzt sich für einen rascheren Designationsprozess ein: „Ohne Zentren mit der entsprechenden Expertise können in Österreich keine klinischen Prüfungen für seltene Erkrankungen durchgeführt werden, um neue Medikamente zu entwickeln.“ Um die Forschungstätigkeit in Österreich zu stärken und heimischen Patienten so früh wie möglich innovative Therapien angedeihen zu lassen, wäre es daher notwendig, das im NAP.se festgeschriebene Ziel rascher umzusetzen. Dazu Schnitzel: „Das BMGF hat im Beirat für seltene Erkrankungen, einer dem Ministerium zugeordneten Expertengruppe, erkennen lassen, dass es einen rascheren Prozess grundsätzlich begrüßen würde, diesen aber nicht alleine tragen kann. Daher braucht es letztlich ein noch stärkeres, gemeinsames politisches Bekenntnis aller verantwortlichen Akteure auf Bundesebene. Einzelkämpfer wie die Familie Sturz oder engagierte Vertreter von medizinischen Einrichtungen scheitern an unklaren Finanzierungs- und Verantwortungsstrukturen. Das ist ein Systemproblem, das bei seltenen Erkrankungen besonders deutlich wird.“ Wenn sich hier nichts verändere, bleibe, so Schnitzel, der nationale Aktionsplan zum Teil lediglich Makulatur. „Das wäre schade, denn dieser Plan verfolgt die richtigen Ziele. Wenn es aber an den Strukturen und mangelnden Ressourcen scheitert, damit Patienten eine entsprechende Versorgung bekommen, dann ist das kein positives Signal aus unserem oft als äußerst qualitätsvoll bezeichneten heimischen Gesundheitssystem“, erklärt Schnitzel.
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