Gibt es ein Recht auf die bestmögliche Therapie? Dieser Frage widmeten sich Experten im Rahmen des 5. Rare Diseases Dialogs der Pharmig Academy in Wien.
Wien, 6. Juni 2019 – Therapien für seltene Erkrankungen zu entwickeln, ist mit hohem Risiko und hohen Kosten verbunden. Hinzu kommt, dass die Entwicklungskosten von Arzneimitteln gegen seltene Erkrankungen (Orphan Drugs) über eine viel kleinere Anzahl an Patienten hereingespielt werden müssen, als dies bei häufiger vorkommenden Erkrankungen der Fall ist. Das wirft die Frage auf, wie garantiert werden kann, dass Patienten die notwendige – mitunter kostspielige - Therapie erhalten, um weniger leiden zu müssen oder auch länger leben zu können. Dazu gaben Experten aus dem Gesundheitswesen ihre Sichtweisen im Zuge des 5. Pharmig Academy Rare Diseases Dialogs.
Die Entscheidung, wann ein Orphan Drug für Menschen mit einer seltenen Erkrankung insbesondere im Krankenhausbereich erstattet wird, fällt immer öfter in regionalen Bewertungsboards. Die Nachvollziehbarkeit dieser Entscheidungen wird von Patienten und Medizinern stark kritisiert. Hinzu kommt, dass der speziellen Evidenzlage von Orphan Drugs, die im Vergleich zu häufigen Erkrankungen naturgemäß mit kleineren Patientenzahlen in den Zulassungsstudien auskommen müssen, nicht ausreichend Rechnung getragen wird.
Wie mit diesen Herausforderungen umgegangen werden kann, darüber diskutierten, nach einer einleitenden Keynote von Dr. Gerald Bachinger, dem Sprecher der PatientenanwältInnen und moderiert von Mag. Tarek Leitner (ORF), Prim. Univ. Prof. Dr. Günther Bernert, Vorstand am SMZ Süd mit Muskelambulanz, Dr. Cornelia Dechant, Patientenvertreterin und Fachärztin, Univ.-Prof. Dr. Michael Mayrhofer, Leiter des Fachbereichs Öffentliches Recht der JKU Linz, Dr. Silke Näglein, Stellvertretende Ärztliche Direktorin von der Wiener Gebietskrankenkasse, Dr. Klaus Offner, Wirtschaftsdirektor am Uniklinikum Salzburg und Univ.-Prof. DDr. Ferdinand Rudolf Waldenberger, medizinischer Direktor am Klinikum Klagenfurt.
Feststeht, dass es in Österreich nicht immer nachvollziehbare Entscheidungen darüber gibt, wann ein Patient ein Arzneimittel gegen seltene Erkrankungen erhält. Insbesondere die Verwendung von allgemeinen Begriffen in den gesetzlichen Grundlagen in Österreich führt zu Auffassungsunterschieden, wenn konkrete Therapieentscheidung getroffen werden sollen. Die Versorgung der Patienten in den Krankenanstalten hat nach dem aktuellen Stand der medizinischen und pharmazeutischen Wissenschaften zu erfolgen. Laut Allgemeinem Sozialversicherungsgesetz muss eine Krankenbehandlung ausreichend und zweckmäßig sein, sie darf jedoch das Maß des Notwendigen nicht überschreiten. Was ist jedoch ausreichend, zweckmäßig und notwendig?
Seitens Silke Näglein von der Wiener Gebietskrankenkassa wurde betont, dass über eine allfällige Kostenerstattung anhand des aktuellen Standes der Wissenschaft sowie der Beurteilung des relevanten Patientennutzens entschieden werde. Den Krankenkassen sei es wichtig, umfassende Konzepte zu erstellen, die langfristig die Versorgung und Finanzierung der Leistungen im österreichischen Gesundheitssystem für Menschen mit seltenen Erkrankungen gewährleisten.
Patienten und Ärzte kritisieren jedoch, dass es ökonomische Kriterien sind, die bezüglich Kostenerstattung meist den Ausschlag geben. Ebenso, dass diesbezüglich errichtete regionale Bewertungsboards im Krankenhausbereich oftmals nicht mit entsprechenden Experten besetzt, deren Empfehlungen nicht immer hilfreich seien und der Entscheidungsfindungsprozess grundsätzlich sehr intransparent verlaufe.
Patientenvertreterin Cornelia Dechant machte zusätzlich auf weitere Barrieren für Menschen mit seltenen Erkrankungen aufmerksam: Noch lange bevor sich die Frage der Erstattung einer Therapie stellt, gibt es große Herausforderungen bei der Diagnose. Die klare Feststellung einer seltenen Erkrankung benötige Zeit und bedeutet oftmals lange Wege für Patienten. Eine inadäquate Behandlung dieser Patienten verursache hohe Kosten, wie etwa durch bleibende Spätfolgen, ergänzte Wirtschaftsdirektor Klaus Offner. Positiv zu werten ist daher aus seiner Sicht die wachsende Zahl der Expertisezentren in Österreich, die auf die Behandlung seltener Erkrankungen spezialisiert sind und die ihr gebündeltes Wissen in einem europaweiten Netzwerk teilen.
Um die Wege des Patienten zwischen Diagnose und Behandlung zu verkürzen, trat die Expertenrunde für ein sinnvolles Verhältnis von wohnortnaher Versorgung und der begrenzten Anzahl solcher Zentren ein. Um die Kosten durch das erhöhte Patientenaufkommen an den einzelnen Expertisezentren auszugleichen, wird auch hier eine einheitliche und bundesweite Vorgehensweise in Bezug auf Therapie und Kostenübername gefordert.
Die Digitalisierung könne im Zuge der Behandlung neue Möglichkeiten bieten, um wieder zeitliche Ressourcen für den Patienten freizumachen. Das würde auch zu einem Mensch-Arzt-Verhältnis führen, anstatt einer Anbieter-Kunden-Beziehung, die derzeit eher das System präge, wie Mediziner Ferdinand R. Waldenberger kritisierte. Überhaupt sei die Etablierung eines Patientenanwalts in der Heilmittel-Evaluierungs-Kommission ein notwendiger Schritt, um mehr Bewusstsein für Patienten mit seltenen Erkrankungen zu schaffen, wie Patientenanwalt Bachinger in seiner Keynote betonte. Mediziner Günther Bernert sprach sich ebenfalls dafür aus, Betroffenen mehr Mitspracherecht in dieser Kommission einzuräumen.
Die Entscheidung, welche Therapie ein Patient erhält, hat der betreuende Arzt, gemeinsam mit dem Patienten, nach dem aktuellsten Stand der Wissenschaft zu treffen, betonte Jurist Michael Mayrhofer. Das gelte zwar bundesweit, jedoch sei die Durchsetzung dieses Rechtes defizitär. Entsprechende Rechtsschutzelemente müssten diesbezüglich angepasst werden, da die Verfahrensdauer für rechtliche Klarstellung eines Therapieanspruchs für betroffene Patienten zu lange dauere. Um solche Verfahren zu verkürzen, wäre es aus Sicht des Juristen denkbar, spezialisierte Instanzen einzurichten, die hier schnell und vor allem unabhängig entscheiden.
Das Fazit des 5. Rare Diseases Dialogs lautet: Es ist eine breite Diskussion zu führen, um klare Vorgehensweisen im Gesundheitswesen für die Behandlung von Patienten mit seltenen Erkrankungen zu schaffen. Absolut notwendig wäre die Etablierung eines bundesweit einheitlichen und klaren Verfahrens hinsichtlich Therapieentscheidung und Kostenerstattung. Bewertungs- und Entscheidungsprozesse müssen diesbezüglich transparenter gestaltet werden, einheitliche und länderübergreifende Regelungen geschaffen und mehr Mitspracherecht für Patienten in entsprechenden Gremien forciert werden.
Ein kurzer Film zum 5. Rare Diseases Dialog der Pharmig Academy ist hier abrufbar. Fotos stehen hier zur Verfügung.
Über die Pharmig Academy: Die Pharmig Academy ist das Aus- und Weiterbildungsinstitut der Pharmig, des Verbands der pharmazeutischen Industrie Österreichs. Sie bietet Seminare, Lehrgänge und Trainings zu allen Themen des Gesundheitswesens. Das Angebot orientiert sich an aktuellen Entwicklungen und richtet sich an alle, die Interesse am Gesundheitsbereich haben bzw. darin tätig sind. Das Format des Rare Diseases Dialog bietet allen Betroffenen, Interessierten und relevanten Akteuren eine offene Diskussionsplattform zu aktuellen Themen im Bereich der seltenen Erkrankungen. Nähere Informationen auf pharmig-academy.at
Rückfragehinweis
Pharmig – Verband der pharmazeutischen Industrie Österreichs
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