Begrenzte Forschungsmöglichkeiten, ungeklärte Finanzierungsfragen und lange Wege für Betroffene erschweren Fortschritte und Behandlungen bei seltenen Erkrankungen.
Wien, 2. Dezember 2022 – Pandemie, Energiekrise und Inflation setzen das nationale Gesundheitssystem unter Druck. Personen, die von seltenen Erkrankungen betroffenen sind, haben zusätzlich das Nachsehen, weil sie bei genereller Ressourcenknappheit aus dem Fokus der Forschung und der Versorgung durch das Gesundheitssystem rücken. Aspekte dazu und wie gegengesteuert werden kann, thematisierten Expertinnen und Experten im Rahmen des Rare Diseases Dialogs der PHARMIG ACADEMY.
Zwischen 6.000 und 8.000 seltene Erkrankungen sind bis heute bekannt. Doch nur sechs Prozent von ihnen gelten als medikamentös behandelbar. Das macht kontinuierliche Forschung essenziell, die in Krisenzeiten aus Mangel an Ressourcen oftmals zu kurz kommt. „Krisenzeiten sind Wendepunkte. Wenn wir in Zukunft eine gute öffentliche Gesundheitsversorgung etablieren möchten, müssen wir bei der Forschung vermehrt auf strategische Partnerschaften zwischen dem öffentlichen Sektor und dem privaten setzen“, führt Ökonomin MMag. Maria Magdalena Hofmarcher-Holzhacker im Zuge ihrer Keynote aus, und fügt hinzu: „Die pharmazeutische Industrie bietet hierfür ein starkes Wachstumspotenzial. Doch nur durch dieses gegenseitige Ergänzen kann es gelingen, neue und innovative Arzneimittel zu entwickeln und Wertschöpfung zu generieren. Denn der Bedarf ist vor allem bei seltenen Erkrankungen noch häufig ungedeckt.“ Laut Hofmarcher-Holzhacker seien folglich vor dem Hintergrund der jetzigen Krise neue Finanzierungsmodelle gefragt. Der öffentliche Sektor muss mehr investieren und am Nutzen solcher Investitionen teilhaben, um in Zukunft mehr Forschung im Gesundheitsbereich zu ermöglichen.
„Universitäten in Österreich sind heute nicht mehr in der Lage, Spitzenforschung selbst zu finanzieren. Dafür können sie einen Beitrag für Forschungsprojekte leisten, indem sie technische Infrastruktur, Lehrpersonal und Laborflächen bereitstellen“, erklärt Univ.-Prof. Dr. Lukas A. Huber, M.D., Leiter der Division für Zellbiologie und Direktor am Biozentrum der Medizinischen Universität Innsbruck. Gerade im komplexen Bereich der seltenen Erkrankungen sei kontinuierliche Forschung essenziell, doch mangle es an öffentlichen Fördermöglichkeiten. Rund 450.000 Menschen in Österreich sind von seltenen Erkrankungen betroffen, aber nur 2 Prozent aller Fördermittel gehen in seltene Erkrankungen. 50 Prozent der Erkrankten sind Kinder, die „zu 100 Prozent unsere Zukunft sind und daher eine ebenso große Wertigkeit für die Forschungsförderung haben müssen, wie große Entitäten“, gibt Huber zu bedenken.
Ein verstärktes Bewusstsein für die Folgen von Forschungsunterbrechungen bei seltenen Erkrankungen wünscht sich auch Mag. Elisabeth Weigand, MBA, Geschäftsführerin der Patientinnen- und Patientenvertretung Pro Rare Austria: „Wenn sich Studien verzögern, dann wirkt sich das auch auf die Verfügbarkeit von Therapien aus.“ Dazu komme, dass die bisherigen Konsequenzen der multiplen Krisen für Menschen mit seltenen Erkrankungen im medizinischen Alltag ohnehin schon mehr als deutlich spürbar waren. „Es gab eine Reihe von Verzögerungen bei Operationen, bei Behandlungen und in der Versorgung. Das wiederum wirkt sich auf die Gesundheit der Menschen aus, aber auch auf das Gesundheitssystem, weil dadurch eine Mehrbelastung entsteht. Gerade psychische Erkrankungen werden durch Krisen verstärkt. In Kombination mit den langen Wegen, bis Betroffene von seltenen Erkrankungen auch abseits der Krise endlich eine Behandlung oder Therapie erhalten, wird dieser Zustand für sie zunehmend untragbar“, so Weigand.
Verantwortlich für die Mängel in der Versorgung in Krisenzeiten sei laut den anwesenden Expertinnen und Experten unter anderem die mangelnde Verfügbarkeit von Personal im Gesundheitswesen. „Wir haben in den Krankenhäusern eine Reihe von Sperrbetten, weil uns das entsprechende Personal fehlt und wir es nicht rekrutieren können. Um eine stabile Gesundheitsversorgung sicher zu stellen, werden finanzielle Mittel daher jetzt und in Zukunft eher in Strukturkonservierung fließen müssen als in Innovationen“, argumentiert Mag. Dr. Edgar Starz, verantwortlich für den zentralen Einkauf an der Steiermärkischen Krankenanstaltengesellschaft m.b.H. (KAGES). Erfahren Gesundheitsberufe laut Starz weiterhin weniger Anerkennung und geringe Bezahlung, verstärke sich der Fachkräftemangel in diesem Bereich. Um die Wege für Patientinnen und Patienten mit seltenen Erkrankungen auf der Suche nach einer innovativen Therapie in Erstattungsfragen zu verkürzen, befürwortet Starz die Schaffung eines bundesweiten Finanzierungstopfs, statt der bisherigen Lösung, wonach Länder und Bund in unterschiedlicher Weise für innovative Therapien aufkommen sollen. Die jetzige Regelung verursache nur „unnötiges und unmenschliches Patienten-Ping-Pong“, wie Starz betont.
„Wir haben derzeit eine Situation in Österreich, dass Betroffene in einem Bundesland unter Umständen eine Therapie erhalten, die ihnen in einem anderen verwehrt bleibt. Das ist für ein Land wie Österreich unwürdig“, hält Dr. Ronald Pichler, Head of Public Affairs und Market Access bei der PHARMIG fest. Pichler sieht in einer bundesweit einheitlichen Finanzierung ebenfalls Potenzial, hält aber fest, dass der Erfolg eines solchen Modells maßgeblich von den Zielen jener abhänge, die diesen Topf befüllen. „Wir müssen gerade in Krisenzeiten dafür Sorge tragen, dass vulnerable Patientengruppen, wie die der seltenen Erkrankungen, die quantitativ überschaubar sind und politisch nicht über das stärkste Stimmengewicht verfügen, weiterhin gehört werden und geschützt bleiben. Und dazu gehört vor allem ein einheitlicher Zugang zu Therapien auf dem modernsten Stand der Wissenschaft“, so Pichler.
Der Rare Diseases Dialog der PHARMIG ACADEMY, moderiert von Mag. Tarek Leitner, fand im Oktober mit 170 Teilnehmenden statt. Ein Film über die Veranstaltung ist hier abrufbar.
PHARMIG – Verband der pharmazeutischen Industrie Österreichs
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