Flexibilität in Zulassungs- und Erstattungsfragen, Vernetzung von Expertise und vermehrte Datennutzung durch die Forschung verbessern die Versorgung bei seltenen Erkrankungen.
Die Arzneimittelentwicklung für seltene Erkrankungen ist in den letzten Jahren immer aktiver geworden. Das ermöglichen der wissenschaftliche Fortschritt und speziell auch eine wichtige regulatorische Maßnahme – die von der Europäischen Union im Jahr 2000 eingeführte Orphan Drug Regulation. Dennoch bedeutet die Erforschung und Entwicklung von Therapien zur Behandlung von Menschen mit seltenen Erkrankungen (sog. „Orphan Drugs“) für die pharmazeutische Industrie ein unternehmerisches Hochrisiko-Geschäft. Gleichzeitig kritisieren Einzelne immer wieder die angeblich unverhältnismäßig großen wirtschaftlichen Vorteile für die pharmazeutische Industrie und sprechen von einem nur geringen Nutzen für Betroffene. Dem haben Expertinnen und Experten in einer Veranstaltung der PHARMIG ACADEMY Fakten entgegengehalten und darüber diskutiert, wie man den Entwicklungsprozess von Medikamenten und die Versorgung von Betroffenen verbessern könnte.
Risiken und Rückschläge
Die Forschungsaktivitäten haben seit dem Jahr 2000 deutlich zugenommen. Das zeigt die Zulassung von rund 200 Orphan Drugs in allen wichtigen Therapiegebieten in den letzten elf Jahren. Dennoch gibt es angesichts von 6.000 bis 8.000 seltenen Erkrankungen immer noch sehr großen Handlungsbedarf. „Zudem schafft es nur eines von 80 Arzneimitteln zur Behandlung von seltenen onkologischen Erkrankungen vom frühen klinischen Entwicklungsstadium bis auf den Markt. Das zeigt, wie risikoreich die Forschung und Entwicklung für Unternehmen in diesem Bereich sein kann, sowohl hinsichtlich der investierten Zeit von Betroffenen und Experten, der Personalressourcen als auch des investierten Geldes“, erklärt Andreas Steiner, Geschäftsführer von AOP Orphan, einem Unternehmen, das auf die Entwicklung von Therapien bei seltenen Erkrankungen spezialisiert ist.
Von Mythen und Fakten
Die Orphan Drug Regulation bietet Unternehmen Anreize und Förderungen für die Entwicklung solcher Therapien, da deren Bereitstellung zu üblichen Rahmenbedingungen kaum möglich ist. Diese Anreize werden von kritischen Stimmen als unverhältnismäßig groß gesehen und es wird den Herstellern unterstellt, damit hohe Profite zu machen. Richtig und erfreulich für Betroffene ist, dass die Forschungsaktivität der Industrie in diesem Bereich hoch ist, wie knapp 4.000 Anträge für einen Orphan Status der letzten 20 Jahre zeigen. Entgegen dem Mythos, dass die Medikamentenforschung für weniger Betroffene auch weniger Aufwand und weniger Kosten verursachen würde, ist es in Wahrheit meist noch schwieriger, für seltene Erkrankungen das passende Studiendesign und ausreichend Studienteilnehmende zu finden als für größere Indikationen. Die Schwierigkeit, die getätigten Investitionen über die oft sehr kleinen Patientenpopulationen und über die unterschiedlichsten Erstattungssysteme der EU- Mitgliedsstaaten auch wieder hereinzubekommen, zeigt sich auch in den Jahresumsätzen. 50 Prozent der Orphan Drugs haben einen Umsatz, der weniger als zehn Millionen Euro pro Jahr auf dem europäischen Markt beträgt.
Spezielle Bedingungen für spezielle Erkrankungen
„Seltene Erkrankungen sind sehr speziell und können schon auf Grund der geringen Zahl an Betroffenen nicht unter den gleichen Rahmenbedingungen beurteilt werden wie Indikationen mit viel mehr Patientinnen und Patienten“, sagt Steiner. Als selten gilt eine Erkrankung dann, wenn weniger als fünf von 10.000 Menschen davon betroffen sind. Mehr als die Hälfte davon sind Kinder, von denen wiederum mehr als ein Viertel das fünfte Lebensjahr nicht erreicht. Damit die Industrie Orphan Drugs für diese kleinen und meist sehr jungen Gruppen von Betroffenen mit sehr hohem Therapiebedarf schneller entwickeln kann, empfiehlt Steiner, das regulatorische Umfeld in Europa flexibler und mutiger bei der Anerkennung von Studiendesigns und -daten zu gestalten. Dies soll auch den Forschungsstandort Europa im Vergleich zu den USA attraktiver machen. Dort nämlich wurden in den letzten Jahren etwa doppelt so viele Forschungsanträge im Bereich der seltenen Erkrankungen gestellt. „Ein wesentlicher Faktor, um gegenüber den USA erfolgreicher zu werden, ist jedenfalls auch eine höhere Harmonisierung innerhalb der EU im Bereich der Erstattung und damit des Therapiezugangs“ betont Steiner. „Als Voraussetzung dafür ist ein höherer gesundheitspolitischer Konsens hinsichtlich der Versorgung von Menschen mit seltenen Erkrankungen zwischen den EU-Mitgliedsstaaten dringend notwendig.“
Trennung von Wissenschaft und Ökonomie
Zum Zulassungsverfahren bei seltenen Erkrankungen nimmt Christa Wirthumer-Hoche als Leiterin des Geschäftsfelds Medizinmarktaufsicht der AGES Stellung: „Die Orphan Drug Regulation hat eindeutig zu einem Forschungs- und Entwicklungsschub im Bereich der seltenen Erkrankungen geführt. Das derzeitige Anreizsystem dieser Verordnung auf diesem Gebiet zu forschen, zeigt aber auch, dass dieses flexibler gestaltet werden sollte, und zwar weg vom derzeitigen 'one-size-fits-all'-Ansatz. Grundsätzlich müssen die EU-Anforderungen an Qualität, Sicherheit und Wirksamkeit von Arzneimitteln erfüllt sein, aber bei Erkrankungen mit oft nur wenigen Patientinnen und Patienten können nicht dieselben Maßstäbe hinsichtlich der Studiendatensätze verlangt werden, wie bei häufigeren Erkrankungen.“ Aufgrund der geringeren Patientenanzahl ist naturgemäß die Datenmengen niedriger. Sinnvoll wäre es daher auch, nicht nur relevante Endpunkte für die wissenschaftliche Bewertung, sondern auch gesundheitsökonomische Endpunkte frühzeitig in die Studienplanung miteinzubeziehen. Das kann Zeit sparen und zusätzliche, nicht unbedingt notwendige Studien vermeiden helfen. „Die wissenschaftliche Bewertung der Zulassungsunterlagen muss jedoch weiterhin strikt von der Bewertung der ökonomischen Aspekte im Rahmen der Erstattung getrennt bleiben“, betont Wirthumer-Hoche.
Vernetztes Wissen und Strukturförderung
Da es pro seltener Erkrankung nur eine Hand voll Betroffene pro Land gibt, ist das Bündeln von Know-how über Verlauf, Therapieoptionen und Forschung laut Rektor Wolfgang Sperl von der Paracelsus Medizinische Privatuniversität Salzburg besonders wichtig: „Die Umsetzung des Nationalen Aktionsplans für seltene Erkrankungen schreitet dazu in Österreich viel langsamer voran als in anderen europäischen Ländern. Die Infrastruktur, die hier für Patientinnen und Patienten entsteht, ist sehr wertvoll. Umso mehr wird man sich wohl früher oder später auch zu Förderungen dieser Struktur bekennen müssen. Je schneller wir Daten und Know-how vernetzen, desto präziser werden Diagnosen und desto schneller profitieren Betroffene und die Forschung davon.“ Positiv zu werten ist dabei aus Sperls Sicht die wachsende Zahl der Expertisezentren in Österreich, die auf die Behandlung seltener Erkrankungen spezialisiert sind und die ihr gesammeltes Wissen jetzt schon in einem europaweiten Netzwerk teilen.
Anerkennung und einheitlicher Therapiezugang
„Für Patientinnen und Patienten ist der Weg von der Diagnose bis zur Therapie lang und zermürbend. Umso wichtiger ist es, dass alle, die in die Forschung, Entwicklung, Zulassung und Erstattung von Therapien zur Behandlung von seltenen Erkrankungen involviert sind, an einem Strang ziehen. Vor allem muss auch die Stimme von Betroffenen darin Gehör finden. Dazu ist auch eine entsprechende Anerkennung und Strukturförderung der Arbeit und Expertise der Selbsthilfe notwendig, die in Österreich, speziell bei den seltenen Erkrankungen, noch immer fehlt“, stellt Patientenvertreter Rainer Riedl von Pro Rare klar. Ein wesentlicher Verbesserungsbedarf wird auch hinsichtlich der Verfügbarkeit und Erstattung von Orphan Drugs gesehen. Denn der Zugang zu innovativen Therapien für Patientinnen und Patienten ist nicht nur innerhalb Europas im Bereich der seltenen Erkrankungen sehr unterschiedlich. Auch in Österreich ist dieser nicht bundesweit einheitlich geregelt. Dies deshalb, weil diese Produkte vorrangig in Krankenhäusern zur Anwendung kommen und die Leitung und Finanzierung der Krankenhäuser Ländersache ist.
Finanzierung im Fokus
Die Entscheidung, wann ein Orphan Drug für Menschen mit einer seltenen Erkrankung insbesondere im Krankenhausbereich erstattet wird, fällt immer öfter in regionalen Bewertungsboards. Die speziellen Evidenzlage von Orphan Drugs, die im Vergleich zu häufigen Erkrankungen naturgemäß mit kleineren Patientenzahlen in den Zulassungsstudien auskommen müssen, wird dort oft unterschiedlich bewertet. Das wiederum bewirkt, dass Arzneimittel gegen seltene Erkrankungen auch weniger oft bzw. unterschiedlich erstattet werden. Die Nachvollziehbarkeit dieser Entscheidungen wird von Betroffenen und Ärztinnen und Ärzten deutlich kritisiert.
„Seltene Erkrankungen sind keine Volkskrankheiten. Man kann daher auch im Rahmen der Erstattung nicht die gleichen Datenmengen fordern wie bei großen Indikationen. Man muss sich bewusst sein, dass seltene Erkrankungen herausfordernd in der Behandlung sind und es Datenlücken, zum Beispiel aus Mangel an Vergleichstherapien, gibt. Das sollte man in Zukunft bei Finanzierungsfragen berücksichtigen“, erklärt Evelyn Walter, Geschäftsführerin des Instituts für Pharmaökonomische Forschung (IPF). Im Fall der Nicht-Erstattung eines zugelassenen Medikaments gebe es laut Walter im Vergleich zu anderen Ländern in Österreich aber die Möglichkeit, eine chefärztliche Genehmigung einzuholen.
Breiter abgestimmte Studien
Unisono sprachen sich alle Diskussionsteilnehmenden für eine bessere Vernetzung und Nutzung von aggregierten nicht-personenbezogenen Gesundheitsdaten aus, um Diagnosen zu verbessern, Patientinnen und Patienten rascher in Studien einzubeziehen, um Arzneimittel so schneller entwickeln zu können, aber auch den Therapie-Outcome umfassender bewerten zu können. Um Arzneimittelstudien bei seltenen oder anderen Erkrankungen nicht unnötig wiederholen zu müssen, sollten in Zukunft schon frühzeitig die unterschiedlichen Datenanforderungen von Seiten der Behörde und der Erstattung klarer definiert und mitberücksichtigt werden.
Der Rare Diseases Dialog der PHARMIG ACADEMY, moderiert von ORF-Redakteur Tarek Leitner, fand als Hybrid-Event im November mit über 240 Teilnehmenden statt.
Ein kurzer Film über den 10. Rare Diseases Dialog der PHARMIG ACADEMY ist hier abrufbar.