Therapieverzögerungen, mangelndes Fachwissen und rechtliche Unsicherheiten im
Bewertungsboard drohen die Versorgung bei seltenen Erkrankungen zu erschweren.
Wien, 8. Mai 2024 – Das neue Bewertungsboard soll einen österreichweit einheitlichen Zugang
zu spezialisierten Medikamenten im Krankenhausbereich ermöglichen. Seit Monaten aber wird
Kritik an dessen Ausgestaltung geübt. Sie bezieht sich vor allem auf mögliche zeitliche
Verzögerungen, einen Mangel an spezifischem Fachwissen und rechtliche Unsicherheiten. Zu
befürchten ist, dass dadurch die Versorgung der Patientinnen und Patienten, insbesondere jener
mit seltenen Erkrankungen, verschlechtert wird. Wo genau daher Anpassungen notwendig sind,
damit das Bewertungsboard positiv wirken kann, wurde beim 15. Rare Diseases Dialog der
PHARMIG ACADEMY diskutiert.
„Wir begrüßen die Schaffung eines Bewertungsboards, das den Zugang zu Therapien für ganz
Österreich regelt. Allerdings sind aus unserer Sicht die klinisch tätigen Expertinnen und Experten
bisher nicht ausreichend berücksichtigt. Doch ihre einschlägige, indikationsspezifische
medizinische Expertise ist essenziell für eine Therapieempfehlung. Das gilt besonders im Bereich der seltenen Erkrankungen. Die Einbindung dieses Fachwissens ins Entscheidungsgremium
müsste daher routinemäßig und verbindlich erfolgen“, erklärt Prim. Univ. Prof. Dr. Reinhold Kerbl,
Generalsekretär der Österreichische Gesellschaft für Kinder- und Jugendheilkunde und Leiter der gleichnamigen Abteilung am Landeskrankenhaus Hochsteiermark in Leoben. Eine eindeutige
Formulierung im Gesetzestext, die sicherstellt, dass die jeweilige medizinische Fachexpertise bei
Therapieentscheidungen die notwendige Grundlage bilden muss, würde Klarheit schaffen.
„Als österreichische Allianz für seltene Erkrankungen und Dachverband von mehr als 100
Mitgliedern fordern wir seit Jahren den österreichweit einheitlichen Zugang zu innovativen
Therapien. Im vorliegenden Gesetz zum Bewertungsboard fehlt aber neben der verpflichtenden
Einbindung der medizinischen Expertinnen und Experten auch die der Patientinnen und
Patienten für seltene Erkrankungen“, stellt Mag. Elisabeth Weigand, MBA, Geschäftsführerin von
Pro Rare Austria, klar. So sei in der Ausgestaltung des Gesetzes und der Geschäftsordnung zu
inkludieren, dass bei der Bewertung des Zusatznutzens innovativer Therapien in jedem Fall die
medizinisch-fachliche Beurteilung durch die Mitglieder der Europäischen Referenznetzwerke für
Seltene Erkrankungen erfolgen muss.
Weigand ergänzt: „Ebenso verpflichtend muss die Expertise der Patientenexperten aus dem Rare Disease-Bereich eingeholt werden. Denn niemand sonst kann fachkundig über die gelebte
Erfahrung mit einer bestimmten Indikation und über den etwaigen Zusatznutzen der zu
bewertenden Intervention gegenüber dem derzeit in Österreich angewandten
Behandlungsstandard als Komparator berichten. Die Patientenanwaltschaft, die sehr wichtige
Funktionen erfüllt, kann dies nicht leisten.“ Darüber hinaus besteht laut Weigand die Sorge, dass
es zu Verzögerung im Zugang zu neuen Therapien für Betroffene kommt. Um dem
entgegenzuwirken, fordert Pro Rare Austria, dass die Bewertung neuer Therapien frühzeitig
eingeleitet wird, basierend auf dem Horizon Scanning. Dieser Prozess dient dazu, früh Einblicke
in innovative Gesundheitstechnologien zu gewinnen.
„Gerade bei Menschen mit seltenen Erkrankungen ist Zeit ein entscheidender Faktor. Es ist
wichtig, dass Entscheidungen schnell getroffen werden und dass das Verfahren keine
Verzögerungen beim Erhalt von Therapien verursacht, die irreparable Schäden durch die
Krankheit verhindern könnten“, stimmen Weigand und Kerbl überein.
Auch in rechtlicher Hinsicht werden Entscheidungen des Bewertungsboards nicht die erhoffte Klarheit mit sich bringen. Dazu Univ.-Prof.in Dr.in Claudia Fuchs, Professorin an der Wirtschaftsuniversität Wien: „Es ist unklar, welche Bindungswirkung den Entscheidungen des
Gremiums zukommen soll. Einerseits handelt es sich um ‚Empfehlungen‘, die ‚angewendet‘
werden sollen, andererseits um Sachverständigengutachten. Zudem gibt es weder einen
Anspruch auf zeitnahe Erlassung einer Empfehlung noch eine Möglichkeit, vor allem gegen
negative Empfehlungen Einspruch zu erheben. Nicht zuletzt befinden sich die Vertreter mit
verpflichtend pharmakologischem beziehungsweise medizinischem Hintergrund im Board in der
Minderheit. Die Möglichkeit, dass sie bei Entscheidungen überstimmt werden können, legt
Inkonsistenzen zum bestehenden System der Arzneimittelbeschaffung offen und bietet eine nur
instabile Basis für Therapieempfehlungen, vor allem wenn es um seltene Erkrankungen geht.“
Während im Krankenhaus die medizinische Versorgung nach dem neuesten Stand der
Wissenschaft erfolgen soll, orientiert sich der ambulante Bereich an den Kriterien der
Notwendigkeit. Spezielle Herausforderungen in der Versorgung sieht Mag. Gunda Gittler, MBA,
aHPh, Leiterin der Apotheke der Barmherzigen Brüder in Linz sowie Vizepräsidentin der
Österreichischen Gesellschaft für Krankenhauspharmazie, daher insbesondere auch bei
Arzneimittelspezialitäten an der Nahtstelle zwischen extra- und intramuralem Bereich: „Das
Bewertungsboard bedeutet eine grundsätzliche Änderung für den Medikamenteneinkauf im
Krankenhausbereich, der ohnehin abgestimmt über die elf Krankenhaus-
Einkaufsgenossenschaften geregelt wird. Insbesondere bei den sogenannten
Schnittstellenprodukten schafft dieses neue Board jedoch noch mehr Unsicherheit, da bei
nachträglichen Entscheidungen, die sich womöglich in der Finanzierung konterkarieren, keine
entsprechenden Budgets eingeplant wurden. Krankenhausträger könnten aus diesen Gründen
den Einsatz von solchen neuen Therapien hinauszögern, bis es eine Empfehlung aus dem Board
gibt“.
Mit Blick auf die Ziele des Gremiums hält Priv.-Doz. Dr. Robert Sauermann, stellvertretender
Leiter der Abteilung „Vertragspartner Medikamente“ im Dachverband der österreichischen
Sozialversicherungsträger, fest: „Das Bewertungsboard soll eine wichtige Lücke in Österreich
schließen, so wie es in den meisten Ländern West- und Nordeuropas schon längst Realität ist.
Nicht nur betroffene Ärzte, sondern auch das Gesundheitssystem muss sich strukturiert und
evidenzbasiert mit neuen Medikamenten befassen, um einen einheitlicheren und fundierten
Zugang zu Therapien zu ermöglichen. Denn eine gut geregelte, nachvollziehbare
Kostenübernahme ist in allen Sektoren wichtig. Jetzt kommt es auf eine gute Umsetzung an.
Insbesondere eine zeitlich frühe Befassung des Boards mit neuen Medikamenten wird in der
Praxis sehr wichtig sein.“
„Bewertungsboards für hochspezialisierte Arzneimittel zählen aus guten Gründen zu den
internationalen Standards. Sie dienen der Transparenz und tragen letztlich zur Fairness im
Gesundheitssystem bei. Der Zugang zu medizinisch innovativen Therapien muss in Österreich
für alle Menschen gleich sein. Das Board wird seine Empfehlungen auf Basis wissenschaftlicher
Evidenz abgeben, dies vor dem Hintergrund der zukünftig stark ansteigenden Anzahl
spezialisierter Therapien. Diese Bündelung an Expertise wird Ärztinnen und Ärzte bei komplexen
Fragestellungen unterstützen und die Krankenanstaltenträger in vielerlei Hinsicht entlasten“,
erklärt ao. Univ. Prof. Dr. Herwig Ostermann, Geschäftsführer des nationalen Forschungs- und
Planungsinstitut im Gesundheitswesen Gesundheit Österreich GmbH.
Die pharmazeutische Industrie steht einer medizinischen Bewertung von innovativen
Arzneimitteln offen gegenüber. Dazu erläutert Dr. Ronald Pichler, Leiter für Public Affairs &
Market Access bei PHARMIG, dem Verband der pharmazeutischen Industrie Österreichs: „Das
oberste Ziel im Gesundheitswesen besteht darin, Patientinnen und Patienten die bestmögliche
Versorgung zu bieten und ihnen auch zeitnah die am besten geeignete Therapie zu ermöglichen.
Ein österreichweit einheitlicher Einsatz von innovativen Arzneimitteln, der auf dem jeweiligen
internationalen Stand der Wissenschaft beruht, wird daher begrüßt. Damit das zukünftige
Bewertungsboard aber nicht zu einem Verhinderungsboard für medizinische Innovationen wird,
sind jedenfalls grundlegende Modifikationen notwendig.“ Denn auch für die pharmazeutischen
Unternehmen entstehen durch dieses neue Board viele Unklarheiten hinsichtlich Planbarkeit und
Haftung. Das alles hat auch Auswirkungen auf die Attraktivität Österreichs als Markt für Innovationen und damit auch für die vorgelagerte Durchführung von klinischen Prüfungen in
Österreich. „Diesbezüglich gilt es, rasch die entsprechenden Anpassungen vorzunehmen“, so
Pichler.
Rückfragehinweis
PHARMIG – Verband der pharmazeutischen Industrie Österreichs
Head of Communication & PR
Peter Richter, BA MA MBA
+43 664 8860 5264
peter.richter@pharmig.at