Anreize wie zehn Jahre Marktexklusivität, Gebührenreduktion und weitere spezielle Förderungen haben nachweislich positive Auswirkung auf Arzneimittelverfügbarkeit im Bereich der seltenen Erkrankungen.
Wien, 20. November 2017 –140 Arzneimittel gegen 155 seltene Erkrankungen sind derzeit zugelassen. Ein Erfolg, der insbesondere auf bestimmte Anreize zurückzuführen ist, die pharmazeutischen Unternehmen gewährt werden, wenn sie an neuen Arzneimitteln gegen seltene Erkrankungen (sog. Orphan Drugs) forschen. Beim zweiten Pharmig Academy Rare Diseases Dialog gaben Experten aus Behörden, Patientenvertretungen, dem Rechtsbereich und der pharmazeutischen Industrie Einblicke, wie notwendig Anreize im Zusammenhang mit dem Schutz geistigen Eigentums für eine bessere Gesundheitsversorgung sind und was Patienten zur Arzneimittelentwicklung beitragen können.
„Seit Einführung der europäischen Verordnung über Arzneimittel für seltene Leiden können in der EU über 2,6 Millionen Patienten mehr mit entsprechenden Arzneimitteln behandelt werden. Das ist ein Ergebnis einer perfekten Teamarbeit zwischen pharmazeutischer Industrie, Wissenschaft, Medizin und Behörde“, sagte Brigitte Blöchl-Daum, Delegierte zum Komitee für Orphan Medicinal Products COMP in der europäischen Arzneimittelagentur EMA. Die von ihr angesprochene Verordnung war im Jahr 2000 eingeführt worden. Ihr Ziel: die Entwicklung von Orphan Drugs anzukurbeln. Mit mittlerweile 140 zugelassenen Orphan Drugs ist der Erfolg eindeutig (Quelle: COMP Meeting Report 10/2017).
Dr. Alexander Meier, Rechtsanwalt und Regulatory Experte für Orphan Drugs, hielt fest: „Ein starker Patentschutz und die im Jahr 2000 mit der Orphan Regulation eingeführten Anreizsysteme, wie etwa eine zehnjährige Marktexklusivität, eine zentrale Zulassung, Gebührenermäßigung und bestimmte Förderungen durch die EU, haben sich bezahlt gemacht. Unternehmen, die in eine so komplexe und heikle Forschung investieren, müssen auch entsprechende Anreize bekommen, mit denen sie zumindest teilweise die hohen Risiken und Herausforderungen im Bereich der Orphan Drug Forschung kompensieren können. Denn nur ein kleiner Teil der initiierten Forschungsprojekte führt zu einem marktreifen Produkt. Häufig gibt es nämlich Rückschläge, weil sich ein Wirkstoff dann doch nicht als so wirksam erweist, es zu viele Nebenwirkungen gibt usw.“ Da der Staat diese Aufgabe, dieses Engagement nicht aufbringen könne, sei es nötig, hier im privaten Bereich auf ein Anreizsystem zu setzen.
Das sieht auch Ing. Class Röhl so. Er ist Obmann der europäischen Patientenakademie EUPATI Austria und der Patientenorganisation Neurofibromatose (NF) Kinder. Röhl: „Anreizsysteme sind unerlässlich. Gleichzeitig ist es wesentlich, Patienten frühzeitig in einen Medikamentenentwicklungsprozess einzubinden und faire Preise anzubieten. Patienten sind die beste Datenquelle, damit bedarfsorientiert Arzneimittel entwickelt werden können. Sie können auch wesentlich dazu beitragen, herauszufinden, was Forschung und Entwicklung letztlich auch gesundheitsökonomisch leisten kann.“
Auch Meier betonte die Wichtigkeit, Patienten einzubinden: „Wenn diese bereits an Bord sind, sobald Forschungsprioritäten seitens pharmazeutischer Unternehmen festgelegt werden, dann kann klinische Forschung effizienter gestaltet werden. Man lernt auch, wo Patienten ihre tatsächlichen Prioritäten setzen. Das muss nicht immer die Verkleinerung eines Tumors sein. Stattdessen geht es Betroffenen oft vorrangig um die Verbesserung der Lebensqualität.“
Michaela Weigl, Vorsitzende der Gesellschaft für MukoPolySaccharidosen (MPS) und Vorstandsmitglied bei Pro Rare Austria, berichtete, dass sie heuer erstmals aktiv von einem forschenden pharmazeutischen Unternehmen als Expertin angefragt wurde, was aus ihrer Patientensicht die wichtigsten Parameter für eine klinische Studie wären. „Wir sollten uns über jedes Unternehmen freuen, das sich in diesem Bereich engagiert. Anreize und ein starker Patentschutz, die Motivatoren für Arzneimittelforschung sind, in Frage zu stellen oder sie gar zu kürzen, finde ich äußerst bedenklich. Das wird sich negativ auf die Verfügbarkeit neuer Arzneimittel auswirken.“ Prof. Dr. Kaan Boztug, Leiter des Ludwig Boltzmann Institute for Rare and Undiagnosed Diseases (LBI-RUD) und des CeRUD Vienna Center for Rare and Undiagnosed Diseases, brachte einen weiteren Aspekt ein, weshalb das Einbinden der Patienten immer notwendiger wird: „Die Medizin entwickelt sich rasant weiter. Sie wird erheblich partizipativer sein. Patienten werden die Medizin der Zukunft maßgeblich mitgestalten.“ Er verwies darauf, dass Krankheiten immer besser erforscht werden können: „Erkrankungen, die früher für eine gehalten wurden, sind heute in mehrere verschiedene aufgeteilt. Dadurch haben wir gleichzeitig das Problem, dass Studien mit großen Fallzahlen nicht mehr so einfach durchzuführen sind. Die für eine klinische Prüfung notwendige Patientenanzahl zu finden ist eine enorme Herausforderung, gerade bei seltenen Erkrankungen.“
„Ich habe eine Arzneimittelentwicklung begleitet, die 17 Jahre bis zur Zulassung gedauert hat. Derart spezifische Arzneimittel sind gewiss nicht billig, aber es steht ein enorm langer Entwicklungsprozess dahinter. Man muss erst einmal einen Industriepartner finden, der in ein solches Projekt investiert. Wir brauchen Patentschutz und Anreizsysteme, denn sonst gibt es keinen Investor und kein neues Arzneimittel“, betonte Univ. Prof. Dr. Ruth Ladenstein vom St. Anna Kinderspital und Geschäftsführerin des Forschungsnetzwerkes OKIDS. Ladenstein setzt sich stark für eine bessere Vernetzung von Expertisezentren über die Landesgrenzen hinweg ein: „Als Leiterin des europäischen Referenznetzwerkes ist es mir ein besonderes Anliegen, einen ‚Standard of Care‘ einzuführen, sodass jeder Betroffene die Möglichkeit hat, nach neuesten Erkenntnissen behandelt werden zu können.“
Die Versorgungssituation europaweit zu verbessern, daran arbeitet auch Dr. Anna Bucsics, Project Advisor bei Mechanism of Coordinated Access to Orphan Medicinal Products (MoCA). Bucsics: „Wesentlich ist der Dialog der unterschiedlichen Stakeholder. Immer wieder stehen die Preise und die damit verbundenen Kosten neuer Arzneimittel im Fokus. Hier ist es notwendig, frühzeitig einen Austausch zwischen den Zahlern und der pharmazeutischen Industrie zu initiieren. Es geht darum, nicht nur ein Produkt durch die Zulassung zu bringen, sondern sich auch gemeinsam darüber Gedanken zu machen, wie dieses Produkt dann letztendlich auch zu den Patienten kommt.“
Zu guter Letzt sprach sich auch Dr. Wolfgang Schnitzel, Vorsitzender im Arbeitskreis „Rare Diseases“ der Pharmig, dafür aus, über Arzneimittelpreise faktenbasiert zu diskutieren: Orphan Drugs haben den Nimbus, teuer zu sein und das Gesundheitssystem über Gebühr zu belasten. Tatsächlich aber ist bei all diesen Indikationen die Anzahl an Patienten extrem gering, gilt doch eine Krankheit erst dann als selten, wenn sie bei nicht mehr als 5 von 10.000 Menschen auftritt. Das hält demzufolge die Anzahl an Behandlungen niedrig, was für einen Ausgleich sorgt.“ Die Industrie sei gerne dazu bereit, über neue Erstattungsmodelle zu diskutieren, die auch dem Trend der personalisierten Medizin gerechter werden.